Freitag, 4. Mai 2012



1.       Tag. Fahrradreise durch Ostdeutschland
BahnHamburg –Wittenberge
Wittenberge - Havelberg
Morgens regnet es. Es ist windig und kühl an diesem Osterdienstag 2012 als ich mein schwer bepacktes Rad die 42 Meter den Blankeneser Hang hoch schiebe. Bei der Tanke lasse ich meine Reifen auf 6 Atü aufpumpen. Durchnässt komme ich am Blankeneser Bahnhof an. Am Hauptbahnhof habe ich noch Zeit, um bei Tchibo mein Guthaben des Handys aufzuladen und gegenüber in der Bank wird mein Barbestand erhöht.
Über Schwerin fahre ich nach Wittenberge an der Elbe. Diese Stadt habe ich in trauriger Erinnerung. Aber die schrecklichen Ruinen, die schon mal als Filmkulisse dienten, sind verschwunden. Alte Fabrikgebäude an der Elbe sind zu Gaststätten, Hotels oder Seniorenheimen verwandelt worden. Die Stadt wirkt immer noch leer, obwohl in den letzten Jahren viel restauriert und renoviert wurde. Eine neue Elbbrücke überquert den Fluss und der schreckliche Kopfsteinpflasterweg ist verschwunden und alles ist perfekt ausgeschildert und so finde ich den Elberadweg auf Anhieb.
45 Kilometer sind es bis Havelberg. Das Storchendorf Rühstedt befindet sich immer noch im Winterschlaf. Keine Menschen und auch keine Störche sind zu sehen. Wer weiß, wo die sich rumtreiben.
Unweit von  Rühstedt kommt man durch eine noch leere Datschensiedlung und dann geht es über ein Sperrwerk auf eine Halbinsel, zwischen Elbe und Havelkanal und Havel. Hier lässt es sich auf dem Deich recht gut fahren, zumal der Wind achterlich ist. Hier ist Natur pur. Alles fängt an zu grünen. Nur die großen Bäume noch nicht. Viele Vögel zwitschern und hoch oben am Himmel schnattern Gänse. Ab und zu mache ich Rast. Der Regen hat aufgehört. Ich horche in mich hinein.
In Havelberg angekommen, fahre ich über eine elegante neue Bogenbrücke in die Altstadt. Die gefährlich enge Eisenbrücke ist verschwunden. In der Altstadt finde ich meine Unterkunft von 2004 wieder. Immer noch werden die Fahrräder in einem völlig verkommenen abbruchreifen Altstadthaus untergebracht.
Mein Spaziergang führt mich durch die Altstadt und hoch die Treppe hinauf zum riesigen Dom von Havelberg. 1000 Jahre sehen auf mich herab. Unmengen von Krähen fliegen wie seit eh und je lauthals krächzend um das backsteinerne Westwerks des Doms.
Im Kloster ist eine gute Dame bereit, obwohl es schon nach sechs Uhr abends ist, für mich und einem Ehepaar noch einmal eine Führung durch den Dom zu machen. Der Dom romanisch begonnen und gotisch beendet, macht durch die schiere Höhe und Größe großen Eindruck auf uns. Gelernt habe ich auch, woher der Ausdruck „ Die Klappe halten“ kommt. Im Domgestühl mussten die geistlichen Herren oft stehen. Die Sitzklappe sollte mit dem Po festgehalten werden, da sonst die hölzerne Sitzklappe lautstark runter knallt. Zur Erleichterung des Stehens der Geistlichen gab es den „Misericordium“, einen hölzernen faustgroßen Sitzknauf. Ja, auf so einer Reise kann man noch was lernen.
Ich sitze abends noch lange in der Altstadtinsel auf einer Bank an der Havel.
Das Leben ist schön.
Heiner Fosseck




2. Tag Fahrradreise durch Ostdeutschland
Havelberg - Rathenow
Es regnet fast den ganzen Tag. Schnurgerade geht der Radweg durch unendliche Fichtenwälder und weite flache Wiesen an der Havel entlang. Weit hinten trompeten unglaublich viele Kraniche. Sehen kann ich sie nicht, aber hören. Da ist wohl gerade bei den Kranichen ein Fußballendspiel im Gange. Überall regt sich Leben. Das zwitschert, röhrt und keckert in einem fort. Ich kann die meisten Piepmätze nicht ausmachen und bis ich mein Fernglas raushabe, ist meistens schon alles vorbei.
Am rechtem Havelufer verirre ich mich und fahre durch so interessante Dörfer wie Lohm mit seinen verfallenen Gutsherenhäusern und Neustadt an der Dosse, wo ich endlich merke, dass ich in Richtung Ruppiner Land fahre. Über Rhinow am Rhin, ja, so einen Fluss gibt es dort, versuche ich mich in Richtung Rathenow durchzuschlagen. Es regnet so, dass ich in den Dörfern keine Menschenseele ansprechen kann. Aber unzählige Hunde kläffen mich an und würden mich am liebsten in Stücke zerreißen. „ Die Köter lieben mich nicht“, rufe ich einer alten Frau zu, die auf dem Bäckerwagen wartet. Die ließ nur ein schallendes Gelächter hören. „Wohin wollen Sie, Rathenow? Bei dem Wetter? Dann man tau.“
In der Stadt Finow ist ein guter handwerklicher Bäcker, wo ich wunderbar Kaffee und Kuchen bekomme. Warum es hier so eine reichliche Auswahl von Gebäck und Brot gibt ist mir schleierhaft und richtig, zwei junge Frauen holen Säckeweise  Brot und Kuchen für die „Tafel“ ab. Schade drum! Statt 45 Kilometer habe ich von Havelberg nach Rathenow 75 Kilometer gefahren. Peinlich! Dafür bekomme ich in Rathenow für 45 € eine gute Unterkunft.  Abends bin ich noch durch Rathenow geschlendert. Eine Stadt, die am Ende des Krieges sehr gelitten haben muss. Obwohl man in den letzten Jahren viel wieder hergerichtet hat, sind mitten in der Innenstadt große Frei- und Brachflächen und gesichtslose DDR Hochhäuser. Der Einzelhandel darbt auch hier. Penny und Netto sind die Geschäfte, die hier überleben können. Tröstlich die große Backsteinkirche, die auf einem Hügel über der Stadt thront. Der Optikpark in Rathenow wird leider erst ab 22. April geöffnet. Rathenow war „die“ Optikstadt. Jetzt versucht man optische Geräte hier wieder zu produzieren. Wie zu Dunckers Zeiten wird es wohl nie wieder. Ich möchte nicht in der Stadtverwaltung Verantwortung tragen. Hier liegt noch viel in Argen.
Am Schleusenplatz in Rathenow steht ein pompöses Denkmal vom Kurfürsten Friedrich –Wilhelm im barockem Stil. Alle seine Kriegstaten sind rundherum aufgeführt und ER hoch oben als römischer Kaiser zu Pferde. An diesem schönsten Platz von Rathenow ist in einem Ensemble von Offiziershäusern eine Gaststätte untergebracht, die wenig zu bieten hat. Dort habe ich eine trostlose Mahlzeit genossen in einem trostlosen Gastraum. Was könnte man hier draus machen. Aber es fehlen wohl auch die Gäste.
Das Leben ist schön. 


Ein Gutshaus im Havelland. Die ehemaligen Eigentümer des Gutes haben seit fünf Jahrhunderten bis April 1945 hier gelebt.



Heiner Fosseck


3. Tag Fahrradreise durch Ostdeutschland
Rathenow - Brandenburg
An den nächsten Tag regnet es nicht. Gott sei Dank. Morgens haben wir vier Grad Celsius. Leider leichter Gegenwind. Heute geht es von Rathenow nach Brandenburg. Die üblichen Irrungen und Wirrungen, obwohl alles wunderbar ausgeschildert ist. Die sollten aber bitteschön, bei Fernradwegen auch die größeren Städte auf den Wegweisern angeben.
Endlich habe ich die Richtung nach Brandenburg wiedergefunden. Mit einer Fähre geht es über die Havel. In einem Dorf an der Landstraße nach Brandenburg wurde eine restaurierte Kirche in eine Sparkasse umgewandelt. War es nicht Jesus Christus, der vor 2000 Jahren die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel hinausjagte?
Nach einem langen Anstieg fahre ich in Brandenburg ein. Hier kommt mir in der Innenstadt in der schmalen Hauptstraße eine Straßenbahn entgegen. Ich flüchte auf den Bürgersteig. Die Frage nach der Unterkunft war letztendlich sehr schwierig. Alles war angeblich voll. Ich versuche eine Übernachtung auf einem komfortablen Floß auf der Havel zu chartern, was nicht gelang. Die wollten mich auch nicht. 79 € bezahle ich im Sorat Hotel Brandenburg. Mich trifft fast der Schlag. Ich schreibe erst mal viel Post. Uschi bitte ich entnervt von  Freitag – Montag ein Appartement im Mutterhaus der Diakonissen im Lazarus Krankenhaus in Berlin an der Bernauer Straße  zu reservieren, was nicht ganz einfach ist. Hier muss immer das Plazet der Verwaltung eingeholt werden.
Brandenburg ist gegen andere Städte der Region doch sehr rege. Hier gibt es noch viele  Geschäfte. Obwohl, hier und dort sind Geschäfte leer oder geschlossen. Eine Wanderung durch die Stadt war sehr interessant, denn überall sind Kanäle und Parks. Alle Industriebauten hat man „revitalisiert“ und in Wohnhäuser umgewandelt.
Das Leben ist schön.
Heiner Fosseck


4. Tag Fahrradreise durch Ostdeutschland
Bahn – Brandenburg-Berlin
Berlin
Mit der Bahn von Brandenburg nach Berlin Hauptbahnhof gefahren. Die Bahn hatte Maleschen mit der Lokomotive, so kam ich gerade noch rechtzeitig mit dem verspäteten Zug mit. Der war brechend voll. Eine Mutter mit einem Schock voller Kinder maulte, dass mein Ra d mindesten vier Klappsitze blockierte. Ich machte auf schwerhörig. In Berlin Hauptbahnhof angekommen staunte ich über das gewaltige Glasdach des Bahnhofes. Sonst war man mit dem ICC aus Hamburg immer drunten in den Katakomben angekommen.
In ein paar Minuten war ich an der Charitè vorbei in der Bernauer Straße angekommen. Ich wurde freundlich von der Dame im Büro empfangen und bezog mein Appartement in der Lazarus-Diakonie. Hier sah ich gleich mal in der Küche nach, ob Pütt und Pann vorhanden waren, denn wieder Würstchen im Teekessel kochen wollte ich nicht. Nachmittags Berlin-Mitte erkundet. Das klappt mit dem Fahrrad gut. Kein Ärger mit fehlenden Parkplätzen und so weiter. In Berlin tanzt der Bär. Die Stadt bordet über mit Touristen aus allen Herrenländern.
Abends war ich in  „Hinter dem Horizont“, ein kitschiges Musical über Liebe und Leid im Zeichen der Mauer und der Stasi. Ein nöliger Hamburger Gesangsinterpret steuerte seine alten Songs bei. „Sonderzug nach Pankow“ oder „Reeperbahn u.s.w. Das Ganze ist gut gemacht und auch die Video Einblendungen und die Bühnenbilder waren beindruckend. Ein gelungener Abend in einem großen Haus am Potsdamer Platz. Nachts gemütlich durch den „Traffic-Jam“ nach Haus gefahren.
Das Leben ist schön.
Heiner Fosseck




5. Tag Fahrradreise durch Ostdeutschland
Berlin
Heute ist Museumstag. Auf der Museumsinsel neben dem Berliner Dom sind in den letzten Jahren alle Museen wiedererstanden. Das Alte Museum, Neues Museum, Pergamon Museum und Bode Museum. Hier wurde mit viel Liebe und Verstand und Können, aber auch mit viel Geld ein Museen-Ensemble wieder aufgebaut, auf das nicht nur Berlin stolz sein kann.18 € für das Weltkulturerbe Museumsinsel, also für alle Museen an einem Tag finde ich angemessen. Interessant, dass man verloren gegangene Wandbilder nicht ergänzt, sondern nur restauriert und die Wände nackt und bloß gelassen hat, mit Einschüssen und Kriegsschäden. Eindrucksvoll die Kuppeln und Aufgänge und Treppenhäuser. Natürlich habe ich die Büste der Nofretetè gesehen. Fotografiert habe ich nur die Kopie für 2980 €. Wunderbar der ägyptische Hof. Die Bilder vom Zeitalter des Alten Fritz. Es war schon sehr viel, was einem geboten wurde. Der Garten der Lüste in der griechischen Abteilung war eine herbe Enttäuschung. Da war nicht viel. Ein paar Hermaphroditen und ein nacktes lüsternes  Paar. Das war alles. Da habe ich in Pompeji doch dolleres gesehen. Das waren aber auch die Römer. Ärgerlich war, dass die Beschilderung sehr tief angebracht waren. Da mussten so alte Herren wie ich einen tiefen Kotau machen, um zu erfahren, was dieses oder jenes bedeutete. Vor den Museen war ein großer Flohmarkt mit den üblichen überteuerten Kitsch.
Abends die Chausseestraße hinauf gefahren. Auf der linken Seite ein gewaltiger Neubau des Bundesnachrichtendienstes. Das zog sich Hunderte von Metern hin. Gegenüber ein „ geheimes BND Cafeè“. Sehr witzig! Ich lande zum Absacker in einer urigen Raucherkneipe, wo die üblichen männlichen Gäste herumlaberten.
Die Welt ist schön.
Heiner Fosseck



6. Tag Fahrradreise durch Ostdeutschland
Berlin
Am Sonntag Quasimodogeniti sitze ich mit Schwester Oberin, ihren Namen möchte sie nicht im Internet lesen, beim Frühstück. Sie mit weißem steifen Häubchen und blauem Kleid mit weißem Kragen. Das obligatorische Kreuz hat sie umgehängt und bald muss sie zur Andacht in die Hauskapelle. Immer um acht Uhr, nur sonntags später um 9.30 Uhr. So haben wir Zeit, uns zu unterhalten.
Zu DDR Zeiten war die Mauer direkt auf der anderen Straßenseite. Dort standen in der Anfangszeit fünfstöckige Mietshäuser und der Dorotheenfriedhof. Der Friedhof wurde Sperrgebiet. Die Schwestern hatten dort ihre Verstorbenen liegen. Nur mit großen Schwierigkeiten konnte man die Gräber besuchen. Von den Mietshäusern sprangen viele Menschen aus den Fenstern. Es gab Tote und Verletzte, die ins Lazarus-Krankenhaus gebracht wurden. Es war erschütternd, wie alte Frauen an einem Seil abrutschten und das Fleisch von dem Händen bis auf die Knochen abgerissen wurde. Dann wurde endlich von der Westberliner Feuerwehr Sprungtücher aufgespannt. Das rettete vielen das Leben. Doch manche verfehlten die Sprungtücher verletzten sich schwer oder starben. Alles dieses Leid mußten die Diakonissen mit ansehen. Erst wurden die Fensteröffungen vermauert, dann wurden die Häuser gänzlich abgerissen. Die Mauer wurde gebaut und der Todesstreifen angelegt. Letztendlich beteten die Schwestern nicht mehr für eine Maueröffnung. Man hatte sich mit dem Zustand abgefunden.“Nein, ich brauche mir kein Blech erzählen lassen“, meinte die Frau Oberin, “ich habe genug gesehen.“ Der Todesstreifen wurde sorgfältig von Unkraut und Bewuchs freigehalten. Dazu benutzte man ein hochgiftiges Vernichtungsmittel. Bei Südwind stank die ganze Gegend danach und man konnte keine Fenster öffnen.
Als die Maueröffnung kam, hatte Lazarus dort, wo das Tor zu ihrem Friedhof stand, die Mauer einfach weggerissen. Die Frauen konnten es einfach nicht fassen. Die Mauer ist weg. Jetzt steht immer noch Teile der Mauer an der Bernauer Straße. Der Todesstreifen ist jetzt eine Grünfläche. Große Gedenkstätten wurden gebaut und dort wo Fluchttunnel waren sind die Wege gekennzeichnet.
Um 10 Uhr bin ich im Berliner Dom. Dort ist vor großen Publikum Gottesdienst mit Abendmahl. Sehr feierlich und beeindruckend. Ich fahre danach mit dem Rad den Mauerradweg ab. Abends fahre ich mit dem Rad durch das hell erleuchtete Brandenburger Tor. Erinnerungen werden wach. Meine Augen werden feucht. Was hat sich hier alles verändert. Unweit im Osten der Stadt steht ein Mann in der Uniform eines Volkspolizisten und stempelt jedem der es möchte in seinem gültigen Reisepass gegen Entgelt ein  Einreisevisum der untergegangen DDR.
Das Leben ist schön.
Heiner Fosseck

7. Tag Fahrradreise durch Ostdeutschland
Bahn Berlin/Ostbahnhof – Frankfurt/Oder
Frankfurt/Oder - Guben

Es ist Montagsmorgen und wohl um die Null Grad. Ich fahre durch brausenden Verkehr und gegen starken Gegenwind bis zur Brücke Warschauer Straße. Dazu habe ich mit meinen 72 Jahren wenig Lust. Versuche eine Auskunft von den eilenden Passanten zu bekommen, wo hier ein Bahnhof für den Zug nach Frankfurt/Oder ist. Daß mal das jemand weiß! „Ne, hier nicht. Frankfurt? Hier ist nur S-Bahn“. Dabei kann ich in der Ferne den riesigen Bahnhof Berlin-Ost erkennen. So plietsch sind die Berliner hier auch nicht mehr. Ich radele an mit Grafiti beschmierten Häusern vorbei zum Ostbahnhof. Schnell die Fahrkarte gekauft und natürlich mein Rad zum falschen Bahnsteig hochgeschleppt und wieder runter und wieder hoch zum richtigen Bahnsteig, wo ich im letztem Augenblick meinen Zug nach Frankfurt/Oder erwische. Ununterbrochen zieht das Berliner Häusermeer am Zug vorbei und dann nur noch endlose Fichtenwälder. Ab und zu riesige Rapsfelder, die noch nicht gelb erblüht sind. Gegen 11 Uhr bin ich in Frankfurt/Oder und radle leider, leider, immer gegen den Wind Richtung Guben. Das raubt mir Kraft und Lust. Von der Oder sehe ich nichts. Ich fahre auf direkten Weg in Richtung Eisenhüttenstadt und weiter zum Barockkloster Neuzelle. Das einzige erhaltene Barock-Stift in Norddeutschland. Hier hat man viel Geld in die Hand genommen, um das Kloster mit den Barockkirchen wieder instandzusetzen. Ich interessiere mich mehr für das gleich daneben befindliche Brauhaus und ärgere mich, dass ich nur Flaschenbier bekomme, das auch noch eiskalt ist. Ich klappere sowieso schon vor Kälte mit den Zähnen. Ich mache, dass ich weiterkomme.
Um 16 Uhr komme ich in Guben an, das ich schon vor Jahren besucht hatte. Damals war ich erschüttert, über den Zustand der Stadt. Jetzt erkennt man Guben nicht mehr wieder. Straßen und Häuser neu. Viele schreckliche leer stehende Industriebauten wurden abgerissen und Grünflächen angelegt. Die Innenstadt ist verkehrsberuhigt worden. Aber auch hier Leerstand wo man hinschaut. Hier sind zweidrittel der Bewohner weggezogen. Auch der polnische Teil von Guben wird restauriert. Der große Polenmarkt ist weitgehend verschwunden. Die Preise haben sich angeglichen. Blumen und Pflanzen werden noch gekauft und das Benzin ist etwa 20 Cent preiswerter in Polen. Friseur, Schuhmacher und ähnliche Dienstleistungen werden noch günstig angeboten. Die Pension kostet 25 €. Die Unterkunft ist auch nicht mehr wert. Das Klo muss man sich mit anderen Gästen teilen. Ich war aber der einzige Gast. Ich werde doch wohl nicht pennschieterig? Was macht man abends in Guben? Man sieht fern.
Das Leben ist schön..
Heiner Fosseck

8. Tag Fahrradreise durch Ostdeutschland
Guben – Bad Muskau
Guben werde ich als sehr kalt in Erinnerung behalten. Jetzt geht der Radweg direkt an der Neiße entlang. Ich frage eine Frau, die über die Neißebrücke nach Polen strebt. „Geht dieser Weg an der Neiße entlang?““ Ja, immer gerade aus.““Sind sie Polin?“ “Nein, ich komme aus Kasachstan“. „Wieso sprechen sie so gut deutsch?“ „ Meine Großmutter war Deutsche“. Die Menschen kommen immer mehr zusammen.
Ich sitze im Windschatten des unangenehm kalten Wind auf einer einfachen Holzbank. Ein 80 jähriger gesellt sich zu mir. Er ist zufrieden mit der Wende. Er hat seine Rente und seine Frau hat eine Rente. Sie kommen zurecht. Er fährt jeden Tag etwa 20 Kilometer mit dem Rad. Ärgerlich sind räuberische Banden, die aus Polen kommen und hier einbrechen. Es sind nicht immer Polen. Angst machen ihm Pläne der Vattenfall, die mit dem Braunkohlentagebau in den nächsten Jahrzehnten bis zur Neiße vordringen und ganze Dörfer verschwinden lassen wollen. „Ach, sage ich, bis das Spruchreif wird, sind wir beide unter der Erde.“ Der Stadt Weißwasser wird von dem Braunkohlebergbau das Grundwasser abgegraben und nun muss in Weißwasser teuer in langen neuen Wasserleitungen Trinkwasser herangeschafft werden. Jetzt wurden schon mal die Wasserpreise erhöht. Vattenfall wird sich nicht verweigern und auch ihr Scherflein zur Behebung der Wassernot beitragen.
Mit meiner Uschi habe ich Kummer. Sie schafft es nur unter großen Schwierigkeiten, mir eine Unterkunft in Bad Muskau zu beschaffen. Das machen wir mit Handy und Internet. Sie sagt mir dann wo ich wohnen werde. Die Tourist-Info im altem Schloss von Bad Muskau ist ein Reinfall. Entweder die gehen nicht an das Telefon oder sind nicht am Arbeitsplatz. „Unterkunft, sie wollen eine Unterkunft. Ja, da muss ich mal sehen, ob da noch was frei ist“, wird genölt, als meine Frau nach einer Stunde Telefoniererei  doch Anschluss bekommt. Sie ruft dann doch lieber selbst in den Hotels an. In einer Pension bin ich mit einem anderem Gast abends allein im Haus.
Der Weg an der Neiße ist sehr schön und immer wieder hole ich mein Fernglas raus. Hier gibt es auch viel zu sehen. Wenn ich bloß Bussard vom Habicht unterscheiden könnte. Aber man kann nicht alles wissen. Ich komme an Wassermühlen und Stauwehren vorbei, die gerade vollkommen neu gestaltet werden. Viele Altarme der Neiße, kleine und größere Teiche und Seen und die verwunschenen Auwälder, sind  hier in dieser noch intakten Landschaft an der Grenze zu Polen zu erleben.
In Forst fahre ich an dem Ostdeutschen Rosengarten vorbei. Das Tor war offen, aber leider die Toiletten zu. Es wurde gerade alles neu bepflanzt. Viel zu sehen war noch nicht. Es war auch noch zu kalt.
Gegen 17 Uhr fahre ich durch den Park von Bad Muskau. Vorbei an 200 jährigen Eichen und geflegten Bepflanzungen. Das Schloss ist teilweise eingerüstet. Immer noch, wie lange wohl schon? Auch beim letztem Besuch war alles eingerüstet. Nun nur noch ein Teil der Vorderfront. Sonst erstrahlt es schon im hübschen Ockerot. Der Burggraben ist auch ohne Wasser. Ein paar Enten baden in den letzten Pfützen.
Die Leben ist schön.
Heiner Fosseck


9. Tag Fahrradreise durch Ostdeutschland
Bad Muskau - Görlitz
Den  Park des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau habe ich schnell abgehakt. Fürst Pückler war als tollkühn und rastlos bekannt. Ich kannte den Mann nur als „Erfinder“ des Fürst-Pückler-Eises. Bei der Anlage des Parks hatte sich der gute Mann übernommen und so verkaufte er Schloss, Park und Herrschaft Muskau. Er zog auf sein Schloss Branitz bei Cottbus. Den Erlös aus dem Verkauf von Muskau verwendete er, um das Schloss Branitz  umbauen zu lassen und um erneut einen Landschaftspark nach englischem Vorbild, den heutigen Fürst Pückler Park anzulegen.
Ich radle gegen kalten lebhaften Wind nach Weißwasser und steige am Bahnhof in dem Zug nach Görlitz. Habe ich das nötig, mich den ganzen Tag auf dem Rad abzuquälen? Nein! So bin ich schon um 11 Uhr in Görlitz angekommen. Die Innenstadt von Görlitz wird immer schöner. Alle Gebäude werden denkmalgerecht restauriert. Bunt und wie geleckt sehen die Bürgerhäuser aus. Nur wenige Menschen sehe ich an diesem 18. April hier. Autos sind aus der Altstadt verbannt. Alles wirkt wie ein einziges Freilichtmuseum. Die Touristenströme können kommen. Ich suche mir ein Hotel in der Altstadt. Im „Zum dreibeinigen Hund“ wollten sie mich für eine Nacht nicht haben, so bin ich im „Zum goldenen Engel“ gelandet, der seinem Namen leider keine Ehre machte. Ich war hier der einzige Gast. Ich wandere durch die Altstadt. Rüber über die Neißebrücke in den polnischen Teil der Stadt. Auch hier wurde viel gebaut. Die Uferpromenade ist sehr gelungen und man hat einen schönen Blick auf die Stadt und das Wahrzeichen von Görlitz: die oberhalb der Neiße aufragende, aus einer spätromanischen Basilika hervorgegangene spätgotische Pfarrkirche St. Peter und Paul-Kirche.
Irgendwas hier auf der polnischen  Seite zu kaufen ist wenig interessant. Höchstens Zigaretten gibt es hier billiger. Die Neonreklame einer Pension mit Night-Bar leuchtet sehr aufdringlich und ich hoffe, dass hier nichts Unanständiges feil geboten wird. Die jungen polnischen Mädchen, die auf der Uferpromenade lustwandeln, ziehen sich attraktiver an, als viele junge Frauen in Deutschland. Die laufen teilweise rum, als wenn sie von der Schicht kommen oder in den Krieg ziehen wollen.
Zurück in der Altstadt komme ich an dem riesigen Sandsteingebäude von Karstadt/Hertie vorbei, das in den letzten Jahrzehnten komplett saniert und restauriert worden war und nun seit 2009 leer steht. Ein einziger Jammer. Es ist ein wunderschönes Haus mit einem bunten Glasdach und Treppenaufgängen wie auf einem Ozeandampfer. Ein Billigshop hat hier eine Teilfläche angemietet Wenn hier nicht bald etwas Grundlegendes passiert, sehe ich dieses Haus untergehen. Wasserrohrbrüche in den Pfeilern, Pinkelecken in den Nebeneingängen und natürlich die üblichen Graffitischmierereien an der Fassade sind der Anfang.
Seit Jahren ziehen westdeutsche Rentner nach Görlitz und bewohnen die hübschen Häuser in der Altstadt. Ein pensionierter Polizeibeamter aus Düsseldorf erzählt mir, dass er für 320 € eine Drei-Zimmerwohnung mit Gartenbenutzung bewohnt. „Steht hier den noch viel leer?“ „Ja, überall dort wo keine Gardinen hängen“, ist die Antwort. Viele Rentner ziehen auch schon wieder zurück nach Westdeutschland. Sie fühlen sich hier in der Altstadt nicht heimisch. Er überlegt auch, ob er wieder an den Rhein zurückziehen sollte.
In einer vorzüglichen handwerklich arbeitenden Bäckerei hole ich mir erstklassigen Mohnkuchen. Damit stopfe ich mich voll. Das ist mein Abendessen.
Das Leben ist schön. 
  Heiner Fosseck






10. Tag. Fahrradreise durch Ostdeutschland
BAHN Görlitz – Dresden
Dresden - Meißen
Sämtliche Glocken in der Innenstadt von Dresden läuteten, als ich um 12 Uhr aus dem Hauptbahnhof von Dresden trat. Hier vor dem Bahnhof habe ich jahrelang ein tiefes großes Loch gesehen, dass jetzt aber mit Tiefgarage, Unterführungen und Kellergeschossen gefüllt ist. Auch die überbreite Pragerstraße hat sich zum Besseren gewandelt. Die schlichten großen DDR-Bauten sind jetzt Ibis-Hotels und ein unglaublich großes Einkaufszentrum beherrscht die Einkaufswelt. Vor der herrlichen Frauenkirche wurden mir wieder die Augen feucht. Es schiebt sich vor meinem inneren Auge die unselige Trümmerstätte der ausgebrannten Ruine der Frauenkirche. Drei fröhliche Kusinen bat ich, mich vor der Frauenkirche zu fotografieren. Als Arbeitsbescheinigung, dass ich auch in Dresden war.
Ich habe langsam den Eindruck, dass meine Fahrt durch Ostdeutschland immer mehr zu einer Art Pilgerreise wird. Dazu trägt wohl auch bei, dass ich als abendliche Bettlektüre „Dat ni Testament för plattdütsch Lüd“ lese. Naja, eigentlich nur die Apostelgeschichte.
Mit dem Rad durch „das“ Dresden, wo man mit dem Auto nicht hindarf. Fürstenzug, Semperoper, Hofkirche und Zwinger u.s.w. Die Stadt bordet über von Touristen aus allen Herren Ländern. Hier gibt es auch kaum Leerstände. Kneipen, Gaststätten in einer Vielzahl, die westdeutsche Städte in den Schatten stellen. Dresden und Berlin sind in. Diese Städte muss man wohl gesehen haben. Immer will ich nach rechts die Elbe runter radeln, aber diesmal fahre ich über die alte Brücke nach Dresden-Neustadt, um links in Richtung Meißen zu fahren. Eine junge Dame im schreiendbunten Surfer-Outfit bitte ich mich zu fotografieren, mit dem „Canaletto-Blick im Hintergrund. Die steht dafür nicht mal von ihrer Bank auf. Auf dem Elberadweg ist schon viel Betrieb. Radlergruppen ohne Ende. Der Radweg ist sehr aufwändig ausgebaut worden. Eine wunderbare Brückenkonstruktion führt von einer Halbinsel zum Festland zurück. Mein Mittagsmahl besteht aus Blutwurst und Brot, dazu Wasser. Das verzehre ich gemütlich auf einer Bank am Elberadweg.
Nach einigen Stunden komme ich in Meißen an. Auch diese schöne Stadt ist komplett saniert. Unterkunft bekomme ich in einer Art „Best exotic Marygold-Hotel“ in der Burgstraße in Meißen. Ein Inder, dem diverse Gaststätten und Häuser in Meißen gehören, hat in einem barocken Gebäude drei Zimmer zu vermieten. Mein Zimmer ist im zweiten Stock. Die überbreite steinerne Treppe kann man mit einem Esel raufreiten. Die Wände sind einen halben Meter dick. Die Decke ist etwa 3,40 m hoch. Das Zimmer ist dramatisch kalt und die Heizung ist vollkommen überfordert. Ich ringe die Hände, aber leider habe ich den guten Mann schon 47 € für die Übernachtung bezahlt. Wie sich heraus stellt, hat der gute Mann mir das Zimmer als Doppelzimmer ohne Frühstück in Rechnung gestellt. Was heißt hier Rechnung, nicht mal eine Quittung habe ich bekommen. Nur den Schlüssel! Abends sitze ich in einer uralten Gaststätte „Im Fuchsloch“. Hier klöne ich mit einem Pensionär der Porzellanmanufaktur Meißen. Er war Former für die Gipsformen von Tellern und Tassen. „Meißen“ ist nach der Wende gut über die Runden gekommen. Die können wohl jeden Preis durchsetzen, meint er.
Um 22 Uhr kehre ich in mein kaltes Loch zurück und hoffe, dass ich über Nacht nicht erfriere.
Das Leben ist schön.
Heiner Fosseck


11. Tag. Fahrradreise durch Ostdeutschland
Meißen - Strehla
Das Wetter ist schön und sonnig als ich frühmorgens aus Meißen abfahre. Der kalte starke Wind kommt von vorn.  Gegen diesen Wind komme ich nur langsam und mühsam gegen an.  Von Kleinzadel setze ich mit einer Gierfähre  nach Niedermuschütz über die Elbe. Ich bin der einzige Fahrgast und der Fährpreis beträgt 1,70 €. Vor 10 Jahren kostete das 1 DM. Hier auf der linken Elbseite ist ein sehr schöner Radweg und ich schaue lange einem Storchenpaar zu, das hoch oben im Nest auf einem Laternenpfahl sitzend, sich gerade beim Brüten ablöst. In Riesa löffle ich einsam in einer einfachen Gaststätte einen riesigen Pott voller Nudelsuppe. Hier muss man immer froh sein, wenn eine Gaststätte geöffnet hat. Ein ruppiger Radfahrer fährt mich beinahe über dem Haufen, als ich gerade absteigen will. Die üblichen theatralischen Anpöbeleien sind nicht zu vermeiden. Die Leute, die hier noch wohnen haben es auch schwer. In einem Geschäft lese ich „Tapetenleim 1a DDR-Qualität.“ Soll das eine Warnung sein? Am Rande der Stadt Riesa warte ich mit einer Dame 7 Minuten, bis wir endlich über die Straße kommen. „Heil hier über die Straße zu kommen ist wie ein Lotteriegewinn,“ meint sie. Recht hat sie.
Strehla hat eigentlich alles. Ein großes schönes Schloss, das die Adelsfamilie Plugk fast 600 Jahre bewohnte. 1945 war dann Schluss. Eine schöne Kirche mit einem intakten Friedhof um die Kirche. Einen übergroßer Marktplatz mit restaurierten Bürgerhäusern rundherum, aber die große Gaststätte„ Der goldene Löwe“ steht seit mindestens 12 Jahren leer. Eine armselige Bäckerei und eine Sparkasse, das war es dann. Im Internet kann man diverse Restaurants in Strehla entdecken. Aber ich habe mit Schwierigkeiten nur unterhalb des Schlosses „Die Sportklause“ entdeckt. Hier war endlich mal was los. Junge Männer spielten Tischtennis oder kegelten im Souterrain. Hier konnte man gut und preiswert den Abend verbringen.
Die eigentlich erste Begegnung zwischen der Roten Armee und der amerikanischen Streitkräften fand hier in Strehla an der Elbe statt. Ein Offizier und ein paar amerikanische Soldaten paddelten in einem Kahn über die Elbe. Dort trafen sie auf Rotarmisten. Der Wodka floss in Strömen und man verbrüderte sich. Rundherum lagen hunderte von zerfetzten deutschen Leichen. Frauen, Kinder und alte Männer waren ein paar Tage vorher bei einem Artillerieüberfall der Roten Armee hier am Elbeufer umgekommen. Es war nicht angebracht nun hierher Fotografen und Kriegsberichterstatter einzuladen, um das historische Zusammentreffen der beiden Armee zu dokumentieren. Die offizielle Zeremonie fand ein paar Tage später im Beisein hoher Militärs in Torgau statt.
Eisig ist der Wind als ich ins Hotel zurückkehre. Ob ich auf dieser Reise noch mal ohne Pullover, dicken Schal und Windjacke auskommen werde?
Das Leben ist schön.
Heiner Fosseck


12. Tag. Fahrradreise durch Ostdeutschland
Strehla - Torgau
Von Strehla nach Torgau sind es gerade mal 42 Kilometer. Der Wind kommt von vorn. Es ist sehr frisch an diesem Morgen. In Strehla sehe ich keinen Menschen. Kein Regen und Streben ist zu erkennen. Steil geht der Weg am Schloss vorbei. Im Schlosspark blüht und grünt es. Die Vögel sind sehr munter und ich versuche die einzelnen Gesänge zu identifizieren. Das gelingt natürlich nicht. Aber es ist schön, dass wenigsten sich die Vögel regen und um die Wette zwitschern. Das Schloss hat auch noch geschlossen, so fahre ich mit meinem schweren Rad auf dem guten Radweg Richtung Torgau. In dem Dorf Weßnig komme ich an Deutschlands erster Radfahrerkirche vorbei. Die Kirche wird erst wieder im Mai aufgemacht. Leider haben die auch das Dixiklo neben der Kirche verrammelt. So muss ich wieder in einer Gaststätte einen Kaffee trinken. Aber ich finde hier in der Diaspora mal eine Gaststätte die offen hat. Mittags erreiche ich Torgau. In das große Zentralhotel quartiere ich mich ein. Vor dem Hotel halten ein Panzerspähwagen und ein Mannschaftswagen mit aufgesessenen jungen Leuten, die auf mich teilnahmslos herabsehen. „Na, wollt ihr hier wieder in den Krieg ziehen?“ Auf meine Frage konnten die natürlich nicht antworten. Ich bin froh, dass sie nicht bewaffnet sind. Hier finden jährlich die Elb-Days statt. Gedenktage anlässlich der jährlichen Wiederkehr der Tage der Begegnung zwischen Russen und Amis an der Elbe. Deshalb der matriarchalische Aufzug der jungen Leute vor dem Hotel. Eine Gruppe alter Veteranen tapert über den großen Torgauer Marktplatz. Die erzählen sich wohl ihre glorreichen Taten im Weltkrieg II. Mitten auf dem Marktplatz spielt die „Top Dog Brass Band“.  Eis schleckende Mütter mit ihren Kindern und auf den Bänken sitzende alte Leute, so auch ich, hören der tollen Musikgruppe zu. Nach ein paar Musikstücken verkrümelt sich die Band. Der im Programm stehende Umzug zu den Elbwiesen mit der Band vorweg findet mangels Masse nicht statt. Ich gehe in das benachbarte Schloss. Im Burggraben leben zwei ausgewachsene Braunbären. Die haben mehr Auslauf als in Hagenbecks Tierpark. Die erste protestantische Kirche, von Martin Luther geweiht, befindet sich in der Schlosskapelle und in der Katharinenstraße Nr. 11 unterhalb des Schlosses, wohnte Katharina von Bora, Luthers Frau, nach dem Tode ihres Gemahls. Ein Spaziergang durch die Stadt schließt sich an. Beim Gedenkstein „der Begegnung“ ist ein schönes Restaurant. „Hier können 100 Leute speisen“, wird groß plakatiert, „ einer nach dem anderen“ wird der Satz komplettiert. „Heute geschlossen“ ist ein Schild an der Tür. Daneben hat ein Lokal „Wegen OP geschlossen“. Heute geschlossene Gesellschaft lese ich an einem dritten Lokal. In einem Geschäft für Berufsbekleidung lese ich ein Schild. „Berufsbekleidung für Gerichtsvollzieher zurzeit ausverkauft.“ Ein chinesischer Imbiss mit Stehtischen und eine schmuddelige Pizzeria sind geöffnet. Die taffe Leiterin des Zentral-Hotels spricht mich auf der Straße an:“ Na, haben sie noch nichts gefunden?“ „ Nein, leider noch nichts, “ antworte ich.“In dieser Stadt hält sich keine Gaststätte. Zuwenig Gäste.“ Auch das große Zentral-Hotel hat keinen Mittags- und Abendtisch mehr, obwohl großer Gastraum und perfekte Küche vorhanden sind. Schlussendlich lande ich in einer Wurstbude, die auch Tisch und Stuhl hat. Hier sehen die Gäste ein Fußballspiel Bayern gegen Madrid glaube ich. Um halb 10 Uhr abends liege ich im Bett  und höre das Knattern des Höhenfeuerwerks, aber da bin ich schon fast eingeschlafen.
Das Leben ist schön.
Heiner Fosseck

13. Tag. Fahrradreise durch Ostdeutschland
Torgau – Wittenberg/ Lutherstadt

Von Torgau nach Wittenberg/Lutherstadt sind es etwa 60 Kilometer. Aber bei dem noch immer vorherrschenden Gegenwind sind das gefühlte 100 Kilometer. Es ist immer noch zu kalt. Auf dem Elberradweg komme ich trotzdem gut voran. Die riesigen Rapsfelder sind jetzt schon sehr gelb aufgeblüht. Das riecht unangenehm. Noch unangenehmer riechen die vielen mit Gülle getränkten Felder. In Dommitsch an der Elbe ist Gottesdienst in der schönen Kirche. Eigentlich findet der Gottesdienst in der geheizten Winterkirche statt. Da der Gottesdienst schon angefangen hat, setze ich mich in die Bankreihen der großen Kirche und höre mir die Predigt mit an. Das mit dem Singen lasse ich nach, denn ohne Gesangsbuch geht das schlecht. Aber das „Vater unser“ kann ich mit beten. Das kommt drinnen in der verglasten Winterkirche gut an. Nach dem Gottesdienst wird geklönt, wo hin, wo her und so. Ich schneide auf und erzähle den braven Leuten, dass ich aus Hamburg komme und über Berlin und Dresden wieder nach Hamburg radele. In einer verräucherten Kneipe in einem von Gott verlassenen Ort esse ich zu Mittag. Lautstark wird hier geknobelt. Ich bin froh, dass hier überhaupt noch Menschen sind.
In Pratau, einen Vorort von Wittenberg gibt es immer noch eine „Straße der DSF.“ Ich frage einen jungen Mann; was das heißt. „Straße der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“, ist die Antwort. Ich wusste schon, was die Buchstaben bedeuten, aber da die Sowjetunion schon seit Jahrzehnten untergegangen ist, hätte man auch hier schon mal eine Umbenennung vornehmen können. Aber vielleicht fühlen sich Bürgermeister und Gemeinderäte in Pratau mit dieser Straße ganz wohl oder gibt es hier noch hundertfünfzig prozentige Stalinisten?
Nach langer Herumfragerei habe ich den Radweg über die Elbbrücke nach Wittenberge gefunden. Einmal über dem Marktplatz und die Mütze vor dem Lutherdenkmal gezogen. Es fängt in Strömen an zu regnen. Das nun auch noch. Ich teile meiner Frau per Handy mit, dass ich heute am Sonntag noch von ihr in den Arm genommen werden möchte.  Ich habe von dem kalten und nassen Wetter endgültig die Nase voll.
Fast sechs Stunden benötigt die Bahn, um mich von Wittenberg nach Blankenese zu bringen. Von Wittenberg nach Röslau. Dort umsteigen. Rad runter vom Bahnsteig, andern Bahnsteig wieder hoch tragen. Röslau – Magdeburg das gleiche aber mit Fahrstuhl. Magdeburg – Ülzen. Umsteigen mit Fahrstuhl. Der Bahnsteig voll mit Leuten mit Wochenendtickets. Mein Rad und ich bekommen gerade noch Platz im Fahrradwagen. Dann endlich im Hauptbahnhof angekommen und rein in die S-Bahn. In Blankenese regnet es als ich im Haus ankomme. Die Fahrt ist glücklich und ohne Blessuren beendet.
Das Leben ist schön.
Heiner Fosseck