Freitag, 4. Mai 2012


6. Tag Fahrradreise durch Ostdeutschland
Berlin
Am Sonntag Quasimodogeniti sitze ich mit Schwester Oberin, ihren Namen möchte sie nicht im Internet lesen, beim Frühstück. Sie mit weißem steifen Häubchen und blauem Kleid mit weißem Kragen. Das obligatorische Kreuz hat sie umgehängt und bald muss sie zur Andacht in die Hauskapelle. Immer um acht Uhr, nur sonntags später um 9.30 Uhr. So haben wir Zeit, uns zu unterhalten.
Zu DDR Zeiten war die Mauer direkt auf der anderen Straßenseite. Dort standen in der Anfangszeit fünfstöckige Mietshäuser und der Dorotheenfriedhof. Der Friedhof wurde Sperrgebiet. Die Schwestern hatten dort ihre Verstorbenen liegen. Nur mit großen Schwierigkeiten konnte man die Gräber besuchen. Von den Mietshäusern sprangen viele Menschen aus den Fenstern. Es gab Tote und Verletzte, die ins Lazarus-Krankenhaus gebracht wurden. Es war erschütternd, wie alte Frauen an einem Seil abrutschten und das Fleisch von dem Händen bis auf die Knochen abgerissen wurde. Dann wurde endlich von der Westberliner Feuerwehr Sprungtücher aufgespannt. Das rettete vielen das Leben. Doch manche verfehlten die Sprungtücher verletzten sich schwer oder starben. Alles dieses Leid mußten die Diakonissen mit ansehen. Erst wurden die Fensteröffungen vermauert, dann wurden die Häuser gänzlich abgerissen. Die Mauer wurde gebaut und der Todesstreifen angelegt. Letztendlich beteten die Schwestern nicht mehr für eine Maueröffnung. Man hatte sich mit dem Zustand abgefunden.“Nein, ich brauche mir kein Blech erzählen lassen“, meinte die Frau Oberin, “ich habe genug gesehen.“ Der Todesstreifen wurde sorgfältig von Unkraut und Bewuchs freigehalten. Dazu benutzte man ein hochgiftiges Vernichtungsmittel. Bei Südwind stank die ganze Gegend danach und man konnte keine Fenster öffnen.
Als die Maueröffnung kam, hatte Lazarus dort, wo das Tor zu ihrem Friedhof stand, die Mauer einfach weggerissen. Die Frauen konnten es einfach nicht fassen. Die Mauer ist weg. Jetzt steht immer noch Teile der Mauer an der Bernauer Straße. Der Todesstreifen ist jetzt eine Grünfläche. Große Gedenkstätten wurden gebaut und dort wo Fluchttunnel waren sind die Wege gekennzeichnet.
Um 10 Uhr bin ich im Berliner Dom. Dort ist vor großen Publikum Gottesdienst mit Abendmahl. Sehr feierlich und beeindruckend. Ich fahre danach mit dem Rad den Mauerradweg ab. Abends fahre ich mit dem Rad durch das hell erleuchtete Brandenburger Tor. Erinnerungen werden wach. Meine Augen werden feucht. Was hat sich hier alles verändert. Unweit im Osten der Stadt steht ein Mann in der Uniform eines Volkspolizisten und stempelt jedem der es möchte in seinem gültigen Reisepass gegen Entgelt ein  Einreisevisum der untergegangen DDR.
Das Leben ist schön.
Heiner Fosseck

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