6. Tag Fahrradreise durch
Ostdeutschland
Berlin
Am Sonntag Quasimodogeniti
sitze ich mit Schwester Oberin, ihren Namen möchte sie nicht im Internet lesen,
beim Frühstück. Sie mit weißem steifen Häubchen und blauem Kleid mit weißem
Kragen. Das obligatorische Kreuz hat sie umgehängt und bald muss sie zur
Andacht in die Hauskapelle. Immer um acht Uhr, nur sonntags später um 9.30 Uhr.
So haben wir Zeit, uns zu unterhalten.
Zu DDR Zeiten
war die Mauer direkt auf der anderen Straßenseite. Dort standen in der
Anfangszeit fünfstöckige Mietshäuser und der Dorotheenfriedhof. Der Friedhof
wurde Sperrgebiet. Die Schwestern hatten dort ihre Verstorbenen liegen. Nur mit
großen Schwierigkeiten konnte man die Gräber besuchen. Von den Mietshäusern
sprangen viele Menschen aus den Fenstern. Es gab Tote und Verletzte, die ins
Lazarus-Krankenhaus gebracht wurden. Es war erschütternd, wie alte Frauen an
einem Seil abrutschten und das Fleisch von dem Händen bis auf die Knochen
abgerissen wurde. Dann wurde endlich von der Westberliner Feuerwehr
Sprungtücher aufgespannt. Das rettete vielen das Leben. Doch manche verfehlten
die Sprungtücher verletzten sich schwer oder starben. Alles dieses Leid mußten
die Diakonissen mit ansehen. Erst wurden die Fensteröffungen vermauert, dann
wurden die Häuser gänzlich abgerissen. Die Mauer wurde gebaut und der
Todesstreifen angelegt. Letztendlich beteten die Schwestern nicht mehr für eine
Maueröffnung. Man hatte sich mit dem Zustand abgefunden.“Nein, ich brauche mir
kein Blech erzählen lassen“, meinte die Frau Oberin, “ich habe genug gesehen.“
Der Todesstreifen wurde sorgfältig von Unkraut und Bewuchs freigehalten. Dazu
benutzte man ein hochgiftiges Vernichtungsmittel. Bei Südwind stank die ganze
Gegend danach und man konnte keine Fenster öffnen.
Als die
Maueröffnung kam, hatte Lazarus dort, wo das Tor zu ihrem Friedhof stand, die
Mauer einfach weggerissen. Die Frauen konnten es einfach nicht fassen. Die
Mauer ist weg. Jetzt steht immer noch Teile der Mauer an der Bernauer Straße.
Der Todesstreifen ist jetzt eine Grünfläche. Große Gedenkstätten wurden gebaut
und dort wo Fluchttunnel waren sind die Wege gekennzeichnet.
Um 10 Uhr bin
ich im Berliner Dom. Dort ist vor großen Publikum Gottesdienst mit Abendmahl.
Sehr feierlich und beeindruckend. Ich fahre danach mit dem Rad den Mauerradweg
ab. Abends fahre ich mit dem Rad durch das hell erleuchtete Brandenburger Tor.
Erinnerungen werden wach. Meine Augen werden feucht. Was hat sich hier alles
verändert. Unweit im Osten der Stadt steht ein Mann in der Uniform eines
Volkspolizisten und stempelt jedem der es möchte in seinem gültigen Reisepass
gegen Entgelt ein Einreisevisum der
untergegangen DDR.
Das Leben ist
schön.
Heiner
Fosseck
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